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Vom Verlust des Verlustes

KV-PFORZHEIM-ENZ - 31.08.2022

Noch immer lebten in der nach dem Krieg in Bonn erbauten Sozialbau-Siedlung, in der ich in den Achtzigern aufwuchs, viele der Erstbezieher:

Ausgebombte, Kriegsheimkehrer, Vertriebene, Kriegerwitwen.

Sie wohnten, die erwachsenen Kinder längst ausgezogen, immer noch in den kleinen Wohnungen, die sie vor Jahrzehnten bezogen hatten.

Wir gehörten zu den wenigen ausländischen Familien was für niemanden jemals Thema war.

Woher wir denn kämen,

eine gerade von den Alten häufig gestellte Frage, klang nie ablehnend,

sondern verriet im Gesichtsausdruck,

Neugier und lebhaftes Interesse.

Wenn wir zu arg Unsinn bauten,

klingelte es bei den Eltern oder wurden gleich an Ort und Stelle ermahnt.

Mit den geographischen Bezeichnungen Danzig, Königsberg, Ostpreußen, Pommern, Stettiner Haff und Schlesien bin ich groß geworden,

ohne richtig verstanden zu haben,

wo das sein soll

und welche Schicksale,

die jetzt in meiner Straße wohnten,

damit verbunden waren.

Oft erzählten die Alten,

wenn wir im Garten oder auf der Straße spielten,

aus sich heraus,

irgendeine lustig vorgetragene,

abenteuerliche Landser-Geschichte aus den besten Jahren ihrer Jugend,

welche sich meistens irgendwo zwischen Leningrad, Moskau oder der Stadt an der Wolga abspielte.

Um dann doch mit feuchten Augen und fassungslosem Gesichtsausdruck des Erzählers zu enden.

Weil am Ende der Horror doch heraus brach.

Wir hörten zu, manchmal gab es 50 Pfennige oder 1 Mark für Süßigkeiten.

Wenn das Fahrrad kaputt war,

klopfte ich bei Polewka, Urban oder Schmitz.

In ihrem aufgeräumten, staublosen Werkzeugkeller hingen zahllose Hammer, Schraubenzieher und anderes Gerät,

penibel sortiert neben der Werkbank an der Wand.

Dieser aufgeräumte Keller ist für mich sinnbildlich für die Akkuratesse dieser Generation,

dieses Volkes,

wie sehr, mit welchem Aufbauwillen, Einstellung, Geist und in welchem Maße diese die Trümmer weggeräumt und dieses Land wieder emporgehoben haben.

Selbstverständlich gilt das auch für die Frauen.

Und genau das faszinierte uns Ausländer an den Deutschen. So sollte es sein und so wollten wir sein.

Weil diese Aufgabenerfüllung ohne Murren,

Disziplin, Fleiß, Genauigkeit, Ordnung, Pünktlichkeit, Qualität, Sauberkeit, diese Sekundärtugenden sich scheinbar durch alle Lebensbereiche zog.

Und genau deswegen waren und wollten wir in Deutschland sein.

Wegen den, diesen Deutschen.

Diese Generation ging nie ohne Mantel und Hut,

diesen beim Gruß vor meinen Eltern immer erhebend,

aus dem Haus.

Das Äußere als reflektierte Form des Inneren.

Der Kirchgang war Bestandteil des Sonntags.

Ebenfalls lief jeden Sonntag eine Sendung mit dem Titel „damals“.

Natürlich ging es um den Krieg.

Wie sollte ein Zehnjähriger verstehen,

dass ‚damals‘ gerade erst 40 Jahre her und für viele der Hutträger damals immer noch heute war?

Wenn Helmut Schmidt, nicht mehr Kanzler,

im Fernsehen auftrat,

wurde vom Vater Ruhe angemahnt,

damit man zuhörte und eine,

seine deutliche Aussprache erlernte.

Wie aus einer anderen Welt, in Ausstrahlung und Würde, erschien Bundespräsident v. Weizsäcker.

Heute wird mir bewusst,

was der wesentliche Unterschied der damaligen Politikergeneration zur heutigen ist.

Sie hatten – alle – eine,

wenn nicht – die – existenzielle Erfahrung gemacht: Bombennächte, Emigration, Flucht, Hunger Vertreibung. Krieg.

Und sie alle litten und wussten

einem gewählten Regime gedient zu haben,

welches ihre wertvollsten Lebensjahre geraubt und unaussprechliche Verbrechen begangen hatte.

In ihrem Namen.

Sie – alle – einte ein gemeinsamer Nenner,

bei aller politischen Feindschaft,

egal wie sie hießen, egal wo sie standen,

Brandt, Strauß, Mende und Wehner, Kohl oder Vogel.

Nie wieder.

Nie wieder durfte von Deutschland Krieg und Vernichtung ausgehen.

Das spiegelte sich, im bescheidenen Auftreten der Republik und ihrer Repräsentanten.

Es spiegelte sich auch,

in einer bodenständigen, realistischen,

dem Bürger, dem Volke dienenden Politik.

Man kann der heutigen Gesellschaft und Politikern nicht vorwerfen,

dass sie Entbehrung und Not nicht erfahren hat.

Man darf ihnen aber vorwerfen,

dass sie nicht nur im akademischen,

sondern im wahrsten Sinne, ungebildet sind,

dass sie Bescheidenheit, Demut, Ehrfurcht, Güte, Redlichkeit, Sparsamkeit und

Liebe zur Heimat vermissen lassen,

dass ihnen nicht bewusst ist,

wie schnell unsere vermeintlich selbstverständliche Freiheit und Sicherheit,

-auch und besonders für Frauen- ,

unser sozialer Friede und Wohlstand verloren sind.

Und es ist gleichzeitig ein Vorwurf an uns selber,

weil die Politik nur ein Spiegelbild von uns selbst ist.

Es liegt mir fern, den Eindruck zu erwecken,

als ob in der alten BRD alles perfekt gewesen wäre.

Bei weitem nicht.

Aber wer den Perfektionismus zum Maßstab erhebt,

hat das Leben nicht verstanden.

Erst jetzt, so viele Jahre später, wird mir klar,

wie sehr meine Alten aus der Nachbarschaft,

diese für mich goldene Generation,

diese gebrochenen Leute mich geprägt,

mein Deutschlandbild geprägt haben.

Erst jetzt wird mir klar,

dass es meine Bundesrepublik, dieses Deutschland, mein Deutschland, meine Nation,

– leichtfertig verspielt wurde- ,

nicht mehr gibt.

Es war ein gutes Deutschland.

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